Transformation ist ein viel genutztes Schlagwort in der aktuellen Managementliteratur und Unternehmenspraxis. Viele Unternehmen nutzen den Begriff, um große Veränderungen anzukündigen. Trotz der vielen Methoden, Frameworks und bewährten Vorgehensweisen scheitern Transformationsprojekte noch immer oft. Studien zeigen: Bis zu 70 % der großen Veränderungsvorhaben scheitern an ihrer Komplexität (Kotter, 1995; McKinsey 2023). Aber warum? Warum funktionieren bewährte Konzepte in einem Kontext, versagen im nächsten? Die Gründe für das Scheitern scheinen tiefer zu liegen, als oft angenommen.
Gängige Antworten verweisen auf klassische Faktoren. Genannt werden fehlende Ressourcen, mangelnde Change-Kommunikation und operative Überforderung. Aber diese Erklärungen reichen nicht aus. In meiner eigenen Praxis als Transformationsbegleiter, CRO (Chief Restructuring Officer, also Verantwortlicher für Umstrukturierungen) und Interimsmanager habe ich drei blinde Flecken identifiziert. Sie reichen tiefer und ziehen sich durch Branchen und Organisationsformen. Es handelt sich um kulturelle Ehrlichkeit, gelebte Rollenverantwortung und kollektive Selbstüberschätzung. Das sind die unsichtbaren Barrieren, die Fortschritt verhindern, obwohl alles „richtig“ gemacht wurde. Diese Aspekte sind entscheidend für den Erfolg von Transformationsprojekten.
1. Der blinde Fleck der kulturellen Ehrlichkeit
Die kulturelle Dimension der Transformation wird oft unterschätzt. Studien zeigen aber, dass sie die zentrale Voraussetzung für nachhaltige Veränderung ist (z. B. Schein, 2010; Denison et al., 2006). Organisationskultur umfasst alle Werte, Normen und Verhaltensweisen, die in einem Unternehmen vorherrschen. Unternehmen investieren in Technologien, Beratungsleistungen und Schulungen. Aber sie investieren selten in einen ehrlichen Blick auf die eigene Organisationskultur. Dieser blinde Fleck zeigt sich in ritualisierten Change-Formaten, symbolischen Pilotprojekten und großer Intransparenz gegenüber dysfunktionalen Mustern. Ineffiziente Arbeitsweisen oder Kommunikationsprobleme können solche Muster sein.
Ehrlichkeit ist unbequem. Sie verlangt, anzuerkennen, dass etablierte Praktiken, Strukturen oder sogar Führungskräfte Teil des Problems sein könnten. In Familienunternehmen, die stark werte- und personenbezogen geführt sind, ist diese Ehrlichkeit besonders schwierig. Kulturelle Loyalität zur Vorgängergeneration, Angst vor Gesichtsverlust und Tabuisierung von Konflikten erzeugen einen Nebel. In diesem Nebel ist echte Reflexion kaum möglich. Wichtig ist, eine offene und konstruktive Fehlerkultur zu fördern.
Modelle wie Edgar Scheins „Cultural Iceberg“ (Schein, 2010) zeigen: Viele entscheidende Transformationshemmnisse liegen unter der Wasseroberfläche. Es sind unausgesprochene Werte, implizite Regeln und soziale Rituale. Transformation beginnt erst, wenn diese sichtbar werden. Die bewusste Auseinandersetzung mit diesen oft unbewussten Faktoren ist essentiell.
Ein konkreter Handlungsvorschlag: Eine Kulturdiagnose zu Beginn jedes Transformationsprojekts. Dafür eignen sich narrative Interviews, Soziogramme oder systemische Aufstellungen. In narrativen Interviews schildern Mitarbeiter ihre Erfahrungen und Perspektiven. Diese Methoden ermöglichen einen geschützten Raum für kollektive Ehrlichkeit.
Ein Praxisbeispiel: In einem Transformationsprojekt in der Konsumgüterindustrie scheiterte ein neues Vergütungssystem. Nicht die Systemlogik war das Problem, sondern dass es die informellen Machtverhältnisse zwischen außendienstlichen Führungskräften und der Inhaberfamilie in Frage stellte. Die Intervention funktionierte erst, als diese implizite Hierarchie explizit thematisiert wurde. Die Offenlegung verborgener Dynamiken war der Schlüssel zum Erfolg.
2. Der blinde Fleck der Rollenverantwortung
Ein zweiter blinder Fleck liegt in der oft unzureichenden Unterscheidung zwischen formaler und informeller Verantwortungsstruktur. In Transformationsprojekten wird viel über Governance, Projektpläne und Verantwortlichkeitsmatrizen gesprochen (RACI-Modell, Projektstrukturpläne etc.). Aber faktische Entscheidungswege verlaufen oft anders. Das RACI-Modell ist ein Werkzeug, um Verantwortlichkeiten in Projekten klar zu definieren. So entsteht eine Rolleninflation ohne Klarheit. Es gibt viele Rollen, aber keine klare Zuordnung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten.
Diese Unschärfe wird besonders sichtbar, wenn externe Impulsgeber in das System kommen. Das sind Transformationsberater, agile Coaches, Interimsmanager oder externe Beiräte. Agile Coaches helfen Teams, agilere Arbeitsweisen zu implementieren. Ohne klare Legitimation entstehen Reibungen. Der Konflikt wird dann personalisiert: „Der Externe passt nicht zu unserer Kultur.“ In Wirklichkeit ist das System nicht anschlussfähig für echte Irritation. Es ist nicht bereit, neue Ideen und Perspektiven aufzunehmen.
Die systemische Organisationstheorie (Luhmann, 1984; Simon, 2007) lehrt uns: Organisationen können ihre Struktur nicht beliebig von außen verändern. Sie müssen Irritationen intern verarbeiten. Dazu braucht es stabile Rollen, in denen Verantwortung nicht nur formal, sondern auch emotional und sozial akzeptiert ist. Wichtig ist, dass Mitarbeiter ihre Rollen verstehen und sich mit ihnen identifizieren.
Eine Empfehlung: Die Einrichtung eines „Transformationsboard“ mit klarer Mandatierung, unabhängiger Moderation und Feedbackroutinen. Rolle, Zweck und Interventionsgrenzen aller Beteiligten sollten von Anfang an explizit gemacht sein. Dieses Board sollte als zentrales Steuerungsorgan fungieren.
Ein Praxisbeispiel: In einem M&A-Prozess im Mittelstand blockierte der bisherige CFO alle Entscheidungsprozesse. Obwohl ihm offiziell keine Transformationsverantwortung übertragen worden war, wirkte er blockierend. Ein M&A-Prozess ist die Fusion oder Übernahme von Unternehmen. Erst ein klärendes Rollengespräch im Beisein der Gesellschafter löste den Knoten.
3. Der blinde Fleck der kollektiven Selbstüberschätzung
Transformationsprojekte sind komplexe, nichtlineare, oft widersprüchliche Prozesse. Trotzdem werden sie vielerorts wie klassische Projekte behandelt. Sie gelten als planbar, steuerbar, linear. Diese Illusion kontrollierbarer Komplexität ist Ausdruck kollektiver Selbstüberschätzung. Viele Unternehmen unterschätzen die Komplexität von Transformationsprojekten und überschätzen ihre Fähigkeiten.
Psychologische Konzepte wie der Dunning-Kruger-Effekt (Kruger & Dunning, 1999) beschreiben dieses Phänomen. Menschen mit geringerer Kompetenz neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. In Organisationen führt das dazu, dass man sich für „veränderungsfähiger“ hält, als man wirklich ist. Die eigene Historie wird zum Referenzpunkt, nicht der externe Kontext. Es erfolgt ein Vergleich mit der eigenen Vergangenheit, anstatt aktuelle Marktbedingungen zu berücksichtigen.
Besonders kritisch wird es, wenn Transformation als technokratisches Change-Programm inszeniert wird. Die Einführung neuer Tools, Prozesse oder KPIs suggeriert Handlungskompetenz, ohne wirklich Verhalten zu verändern. KPIs (Key Performance Indicators) sind Kennzahlen, die den Fortschritt eines Unternehmens messen. Es erfolgt eine Transformation der Struktur, nicht des Systems. Neue Strukturen werden geschaffen, aber die grundlegenden Verhaltensweisen bleiben unverändert.
Ein Lösungsansatz: Die Einführung von „Learning Loops“ im Transformationsdesign. Statt Meilensteinplänen braucht es Hypothesenzyklen, Wirkungsmonitoring und retrospektive Lernformate. Learning Loops sind iterative Lernprozesse, die es ermöglichen, aus Erfahrungen zu lernen und das Vorgehen anzupassen. Methoden wie Effectuation (Sarasvathy, 2001), Sensemaking (Weick, 1995) oder das Cynefin-Framework (Snowden & Boone, 2007) können hier Orientierung geben. Effectuation ist ein Ansatz für unternehmerisches Handeln unter Unsicherheit. Sensemaking beschreibt den Prozess, wie Menschen Sinn in komplexen Situationen konstruieren. Das Cynefin-Framework ist ein Entscheidungsfindungsmodell für komplexe Systeme.
Ein Praxisbeispiel: In einem internationalen Industriekonzern scheiterte die Transformation der IT-Landschaft mehrfach. Der Versuch, ein lineares Roll-out-Modell auf ein hochpolitisches, dezentrales System zu übertragen, funktionierte nicht. Erst der Wechsel zu einem inkrementellen Lernansatz mit lokalen Experimenten brachte nachhaltige Ergebnisse. Ein inkrementeller Lernansatz bedeutet, dass Veränderungen schrittweise und in kleinen Schritten umgesetzt werden.
Fazit: Transformation beginnt im Spiegel
Die drei beschriebenen blinden Flecken sind keine individuellen Schwächen, sondern systemische Muster. Sie entstehen aus organisationalem Selbstschutz, funktionaler Ambiguität und dem Wunsch nach Stabilität im Wandel. Funktionale Ambiguität bedeutet, dass Rollen und Verantwortlichkeiten nicht klar definiert sind. Aber genau darin liegt die paradoxe Herausforderung der Transformation. Sie verlangt Sicherheit und Unsicherheit zugleich, Struktur und Emergenz, Klarheit und Reflexion. Emergenz bedeutet, dass neue Eigenschaften und Strukturen entstehen, die vorher nicht absehbar waren.
Wer diese blinden Flecken anerkennt, öffnet sich für eine neue Qualität des Wandels. Er wird ehrlich, resilient und anschlussfähig. Resilient bedeutet, dass man in der Lage ist, sich von Rückschlägen zu erholen. Transformation wird dann nicht als Projekt gedacht, sondern als Reifeprozess. Es ist eine kollektive Lernreise, die nicht am Flipchart beginnt, sondern im Spiegel. Es geht um eine ehrliche Selbstreflexion und die Bereitschaft, sich zu verändern.
Quellen (Auswahl):
Kotter, J.P. (1995): Leading Change: Why Transformation Efforts Fail. Harvard Business Review.
Schein, E.H. (2010): Organizational Culture and Leadership. Jossey-Bass.
Kruger, J., & Dunning, D. (1999): Unskilled and unaware of it. Journal of Personality and Social Psychology.
Snowden, D., & Boone, M. (2007): A Leader’s Framework for Decision Making. Harvard Business Review.
Sarasvathy, S.D. (2001): Causation and Effectuation. Academy of Management Review.
Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Suhrkamp.
Simon, F.B. (2007): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Carl-Auer.
Weick, K.E. (1995): Sensemaking in Organizations. Sage.