Warum Schweigen lauter spricht als jedes Familienprotokoll

In der Nachfolge reden wir viel, über Testamente, Steuerklassen und Gesellschaftsanteile. Wir verhandeln Erbschaftsstrukturen, Pensionszusagen und Abfindungsregelungen. Und wir schweigen gleichzeitig. Über das, was wirklich zählt. Über Erwartungen. Enttäuschungen. Schuld. Stolz. Und über den leisen Wunsch, dass alles irgendwie bleibt und trotzdem ganz anders wird.

Dieses Schweigen hat ein System. Es schützt. Es lähmt. Und es wirkt. In keinem anderen Transformationsprozess in Unternehmen ist die symbolische, implizite und emotionale Kommunikation so zentral – und zugleich so wenig thematisiert wie in der Nachfolge. Dabei entscheidet nicht nur, was gesagt wird. Sondern auch wie, wann, von wem und mit welchem Subtext.

Die Nachfolge ist ein kommunikativer Ausnahmezustand. Wer ihn nicht erkennt, verpasst die wichtigste Stellschraube für die erfolgreiche Übergabe: die Sprache.

Kommunikation als Machtmittel: Wer spricht, setzt die Deutung

In Familienunternehmen ist Sprache kein neutrales Transportmittel. Sie ist Werkzeug der Macht, Ausdruck von Identität und oft auch Bühne für ungeklärte Loyalitäten. Wer über die Zukunft spricht, beansprucht Gestaltungshoheit. Wer zuerst sagt, was sein soll, schafft Realität.

Viele Nachfolger:innen erleben das schmerzhaft, wenn sie eigene Vorstellungen artikulieren und auf ein informelles „Das haben wir schon immer so gemacht“ stoßen. Hinter dieser Formel steckt keine Argumentation, sondern ein Deutungsanspruch: Die Gegenwart soll nicht diskutiert, sondern tradiert werden.

In der Nachfolge ist also nicht nur entscheidend, was gesagt wird, sondern auch, wer etwas sagen darf. Wird die junge Generation überhaupt gehört? Dürfen Angestellte Fragen stellen? Hat ein externer Beirat das Recht, Kulturthemen anzusprechen?

In vielen Fällen ist die Sprache hierarchisch organisiert. Die Macht liegt bei denen, die lange da sind. Oder bei denen, die schweigen, aber alles wissen. Kommunikation wird zur Ressource. Wer sie kontrolliert, kontrolliert die Nachfolge.

Narrative: Die Familiengeschichte als Unsichtbarer Dritter

Kaum ein anderes Element prägt Nachfolgeprozesse so stark wie das familiäre Narrativ. Es ist selten niedergeschrieben. Und doch allgegenwärtig.

  • „Wir sind seit fünf Generationen unabhängig.“

  • „Unser Vater hat alles allein aufgebaut.“

  • „Wir haben 2008 überlebt – wir schaffen auch das.“

Solche Sätze wirken wie Gerüste, die Sicherheit bieten. In Wahrheit sind es semantische Korsette. Sie setzen voraus, was eigentlich zur Verfügung stehen sollte. Wer sie infrage stellt, gefährdet die Identität des Systems oder zumindest das Gefühl der Kontinuität.

Dabei sind Narrative nie nur Erzählungen. Sie sind auch Auslassungen. Was nicht erzählt wird, ist oft noch mächtiger als das, was im Familienalbum steht. Die zerstrittenen Brüder, die still aus dem Unternehmen gedrängt wurden. Der gescheiterte Börsengang. Die fast insolvente Holding. All das bleibt unausgesprochen, aber spürbar.

In der Forschung nennt man das „narrative Silos“. Sie entstehen, wenn einzelne Familienmitglieder oder Organisationsteile ihre eigene Geschichte erzählen und dabei andere Perspektiven systematisch ausblenden. Der Effekt: Fragmentierung. Misstrauen. Kommunikationsvermeidung.

Sprachlose Räume: Wenn über das Wesentliche nicht gesprochen wird

In vielen Familienunternehmen gibt es Themen, über die nicht gesprochen wird – zumindest nicht offiziell. Dazu gehören:

  • die Bewertung des Unternehmens („Wem gehört was wirklich?“)

  • die emotionale Beziehung zur Firma („Will ich das überhaupt übernehmen?“)

  • die Rolle der Partner:innen („Warum ist mein Mann nicht zum Gespräch eingeladen?“)

  • die Performance des Vorgängers („Was lief eigentlich falsch in den letzten Jahren?“)

Diese sprachlosen Räume sind gefährlich. Denn sie erzeugen Unsicherheit und füllen sich schnell mit Spekulationen, Gerüchten und Zuschreibungen. In der Nachfolgekommunikation ist das Ungesagte oft mächtiger als jede klar formulierbare Absicht.

Hinzu kommt: Die emotionale Seite der Nachfolge wird häufig delegitimiert. Wer über Gefühle spricht, gilt als irrational. Wer sich verletzt, zeigt sich als schwach. Wer einen offenen Dialog einfordert, als übergriffig gilt.

Das führt dazu, dass Nachfolger:innen oft nicht nur fachlich, sondern auch kommunikativ unter Druck stehen. Sie müssen stark, loyal und lösungsorientiert auftreten. Gleichzeitig sollen sie sensibel, verbindlich und anpassungsfähig sein. Eine unmögliche Rolle. Und eine, die selten benannt wird.

Die Rolle symbolischer Kommunikation

Neben dem, was explizit gesagt wird, spielt in der Nachfolge vor allem das Symbolische eine zentrale Rolle. Rituale, Gesten, Gestaltungen wirken oft stärker als Worte.

Ein paar Beispiele:

  • Der alte Schreibtisch bleibt im Büro, auch nach dem Auszug des Seniors.

  • Die Namensplakette an der Tür wird nicht ausgetauscht.

  • Der neue Geschäftsführer wird intern vorgestellt, jedoch nicht vom Inhaber.

  • Die Familienchronik liegt offen aus, aber der aktuelle Strategieplan bleibt unter Verschluss.

Solche Details senden Botschaften. Sie sagen: „Du darfst übernehmen, aber nicht verändern.“ Oder: „Du gehörst dazu, aber nicht ganz.“

Gerade in Familienunternehmen ist Symbolik verdichtet. Der Unternehmenssitz im Elternhaus, das Logo mit dem Familienwappen, das Sommerfest im Garten des Patriarchen, all das spricht. Und oft lauter als jede Willensbekundung.

Wer die Nachfolge kommunikativ gestalten will, muss diese symbolischen Ebenen erkennen, deuten und, wenn nötig, neu rahmen.

Kommunikationskonflikte als Stellvertreterkriege

In vielen Übergaben entladen sich Konflikte an scheinbar banalen Kommunikationsfragen:

  • Wer moderiert das Familienmeeting?

  • Wie spricht man mit der Belegschaft über die Nachfolge?

  • Warum wird der neue Geschäftsführer geduzt, der alte aber gesiezt?

  • Darf die Schwiegertochter im Beirat sitzen?

Solche Fragen wirken auf den ersten Blick nebensächlich. Tatsächlich sind sie Projektionsflächen für tiefere Spannungen: über Macht, Zugehörigkeit, Kontrolle und Anerkennung.

Oft verbergen sich hinter Sprachkonflikten unausgesprochene Loyalitätsfragen: Wer steht wem näher? Wer vertritt, wessen Interessen? Wer darf entscheiden und wer wird übergangen?

Hier braucht es kommunikative Klärungsprozesse. Und Menschen, die bereit sind, nicht nur über Inhalte zu reden, sondern auch über Beziehungen.

Vertrauen entsteht nicht durch Information – sondern durch Resonanz

Ein weit verbreiteter Irrtum in der Nachfolge ist, dass Transparenz mit Vertrauen gleichzusetzen ist. Nach dem Motto: „Wenn alle wissen, was geplant ist, ist alles gut.“

Das ist falsch.

Vertrauen entsteht nicht durch Informationen, sondern durch Resonanz. Das heißt: durch das Gefühl, gesehen, gehört und verstanden zu werden.

Wer als Nachfolger:in sachlich alles erklärt, aber emotional nicht andockt, erzeugt Distanz. Wer als Senior alles dokumentiert, aber nichts erläutert, hinterlässt Unsicherheit. Und wer als Berater:in nur PowerPoints zeigt, aber keine Sprachfähigkeit vermittelt, ist zum Teil des Problems.

Deshalb braucht erfolgreiche Nachfolgekommunikation mehr als nur gute Vorbereitung. Sie braucht Dialogräume, Zuhörkompetenz und Deutungsarbeit. Und den Mut, Dinge zu benennen, die wehtun.

Die Sprache finden: Ein Plädoyer für eine neue, kommunikationsbewusste Nachfolge

Was also tun?

Zunächst: Kommunikation in der Nachfolge darf kein Nebenprodukt sein. Sie ist nicht die Kür – sie ist die Voraussetzung. Jede Nachfolge sollte daher mit einer bewussten Kommunikationsarchitektur begleitet werden. Dazu gehören:

  1. Explizite Kommunikationsvereinbarungen: Wer spricht wann mit wem über was?

  2. Narrative Aufarbeitung: Welche Geschichten prägen uns? Welche möchten wir neu erzählen?

  3. Moderierte Dialogformate: Räume für Zuhören, Widerspruch, Verständigung.

  4. Symbolische Rahmung: Rituale, Übergaben, Gestaltungen, die bewusst orchestriert werden.

  5. Sprachfähigkeit fördern: durch Coaching, Sparring, Rollenspiele – für Senior wie Junior.

  6. Reflexion über Schweigen: Wo wird nicht gesprochen – und warum?

Fazit: Es wird Zeit, das Schweigen zu brechen

Die Sprache der Nachfolge ist mehrstimmig, widersprüchlich, emotional aufgeladen – aber gestaltbar.

Wer sie nicht beachtet, riskiert Missverständnisse, Konflikte und Abbrüche. Wer sie ernst nimmt, kann nicht nur den Übergang organisieren, sondern auch eine neue, gemeinsame Erzählung schaffen. Eine, die verbindet, statt zu trennen. Die stärkt, statt zu lähmen.

Denn in Familienunternehmen geht es nie nur um den Wechsel der Generationen. Es geht immer auch um den Sprachwechsel. Und darum, wer künftig erzählt und gehört wird.


Der Artikel wurde von Christian Neusser erstellt. Inhalte und Zitate wurden im Rahmen seiner Doktorarbeit erhoben und sind Bestandteile seiner Forschung zum Thema Unternehmensnachfolge in inhabergeführten Unternehmen an externes Management. 


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