Ein Praxisfall aus der Bauzulieferindustrie über sprachlose Übergänge und kommunikative Leerstellen

Diese Fallstudie stammt aus meiner laufenden Forschung zur externen und internen Unternehmensnachfolge in deutschen Familienunternehmen des verarbeitenden Mittelstands. Sie basiert auf einem Interview mit dem Nachfolger, mehreren Gesprächen mit Mitarbeitenden sowie einer Analyse interner Dokumente. Auf ausdrücklichen Wunsch des Unternehmens wurden alle Namen und handelnden Personen anonymisiert, um Rückschlüsse auf das reale Unternehmen auszuschließen.

Der Fall zeigt eindrücklich, wie stark nicht die Verträge, sondern die Kommunikation den Verlauf und die Qualität einer Übergabe prägt und welche Rolle unausgesprochene Loyalitäten, symbolische Akte und narrative Leerstellen dabei spielen.

Der Hintergrund: Eine solide Firma mit leisen Brüchen

Die „Marenko GmbH“, ein mittelständisches Unternehmen aus Süddeutschland mit 120 Mitarbeitenden, stellt hochspezialisierte Profile für den Innenausbau und die industrielle Gebäudetechnik her. Solide aufgestellt, seit Jahrzehnten inhabergeführt, mit langjährigen Kundenbeziehungen im B2B-Geschäft, insbesondere im Bau- und Sanierungssegment.

Karl M., der Geschäftsführer und Eigentümer in zweiter Generation, führte das Unternehmen über 40 Jahre lang. Ingenieur, Techniker, Macher, ein Mann mit klarer Haltung, aber ohne große Worte. Im Unternehmen galt sein Wort, doch seine Kommunikation war zurückhaltend, pragmatisch, selten persönlich. Entscheidungen wurden oft nicht erklärt, sondern erwartet. Es funktionierte, solange die Rahmenbedingungen stabil blieben.

Im Frühjahr 2024 erfolgte die Übergabe an seinen Sohn Tobias M., studierter Wirtschaftsingenieur mit externer Berufserfahrung in einem Industriekonzern. Die Übergabe war formal lange vorbereitet: Die Gesellschaftsanteile wurden übertragen, ein Geschäftsführervertrag aufgesetzt, die Banken informiert, eine Übergangsphase mit doppelter Geschäftsführung vereinbart. Auf dem Papier war alles in bester Ordnung.

Doch in der Organisation war nichts geordnet, zumindest nicht kommunikativ.

Der Tag der Übergabe: Eine E-Mail statt eines Wortes

Die interne Ankündigung kam per Rundmail:

„Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns, mitteilen zu dürfen, dass Herr Tobias M. mit Wirkung zum 1. März die die alleinige Geschäftsführung übernommen hat. Wir danken Herrn Karl M. für seine langjährige erfolgreiche Leitung und wünschen Tobias M. viel Erfolg.“

Keine Personalversammlung, kein offizielles Abschiedswort, kein gemeinsames Auftreten. Der Vater verabschiedete sich mit einem stillen Rückzug aus der Geschäftsführung, ohne eine einzige Ansprache an die Belegschaft.

Im Unternehmen war die Nachricht kein Geheimnis. Und doch wurde sie wie ein Tabu behandelt. In der Produktion sprach man hinter vorgehaltener Hand:

„Jetzt isser also der Chef … Mal schauen, wie lange das gutgeht.“

„Ob der Alte das wirklich wollte?“

„Ich glaub, der hat noch die Schlüssel fürs Lager.“

Tobias M. wollte selbst mit Energie starten. Er organisierte einen Strategieworkshop, digitalisierte die Reporting-Struktur und senkte einige Genehmigungshürden. Fachlich wurde das anerkannt. Doch die Atmosphäre blieb reserviert.

„Ich hatte das Gefühl, ich spreche in einem Raum, in dem alle zuhören, aber niemand antwortet“, sagte er im Interview. „Es war wie ein Vakuum: Ich war da – aber irgendwie auch nicht.“

Die alte Sprache und ihr Schweigen

Was Tobias M. unterschätzte: Das Unternehmen hatte über Jahrzehnte hinweg einen impliziten Kommunikationsstil entwickelt, geprägt vom Vater. Entscheidungen wurden knapp kommuniziert, Diskussionen vermieden, Rückfragen als Misstrauen gedeutet. Wer im System sozialisiert war, verstand diesen Code. Wer ihn nicht kannte, musste sich mühsam herantasten.

Die Folge: Der neue Geschäftsführer sprach eine andere Sprache, analytisch, offen, dialogorientiert. Doch diese Sprache fand keinen Widerhall. Viele der langjährigen Mitarbeitenden wussten nicht, ob sie seine Worte deuten oder hinterfragen sollten. Die neue Sprache blieb fremd oder wurde als Schwäche gedeutet.

Gleichzeitig blieb der Vater präsent. Zwar räumte er seinen Platz im Büro, übergab die operative Leitung, blieb jedoch weiterhin Eigentümer, hielt sich im Hintergrund auf und erschien gelegentlich auf dem Gelände. Er sprach nicht über die Übergabe. Und genau dieses Schweigen wurde zur Deutungslücke:

„Vielleicht ist er enttäuscht?“

„Wollte er doch lieber jemand anderen?“

„Wird er eingreifen, wenn etwas schiefläuft?“

Die Mitarbeitenden fühlten sich wie in einer Schwebe. Die formale Macht war übergeben, die symbolische nicht. Und ohne Symbolik bleibt die Kommunikation brüchig.

Der doppelte Schatten

Im Inneren des Unternehmens wirkte weiterhin eine unsichtbare Doppelspitze. Zwar gab es offiziell nur einen Geschäftsführer, doch viele Entscheidungen wurden mit Blick auf den Senior getroffen oder vertagt.

So kam es, dass Tobias M. eine Marketingagentur beauftragen wollte, um das Firmenlogo und den Markenauftritt zu modernisieren. Eine einfache, budgetkonforme Entscheidung. Doch der kaufmännische Leiter bat um Aufschub, „bis Karl dazu gefragt wurde“.

Solche Situationen wiederholten sich. Die Führungskräfte wussten nicht, ob der neue Geschäftsführer das letzte Wort hatte. Der alte Chef schwieg – und das wurde als implizites Veto interpretiert.

In der Organisationsforschung spricht man von einem „shadow principal“, einem nicht mehr aktiven, aber kulturell wirksamen Autoritätsanker. Solange dieser Schatten nicht aktiv aufgehoben wird, bleibt die neue Führung symbolisch unterminiert.

Der Wendepunkt: Drei Minuten Klartext

Drei Monate nach der Übergabe lud Tobias M. zur Betriebsversammlung ein. Er bat – zum ersten Mal – seinen Vater um ein offizielles Wort zur Übergabe.

Karl M. sprach drei Minuten:

„Ich danke Ihnen für Ihre langjährige Treue und Mitarbeit. Ich habe das Unternehmen lange geführt – jetzt ist es an der Zeit, loszulassen. Mein Sohn Tobias führt das Unternehmen nun. Er hat mein volles Vertrauen. Ich halte mich künftig zurück.“

Es war kein dramatischer Auftritt. Kein Applaus. Keine Tränen. Aber es war ein symbolischer Akt. Ein performativer Sprechakt im Sinne Austin’s: Mit dem Aussprechen vollzog sich die Realität.

Danach änderte sich etwas spürbar. Tobias wurde häufiger direkt angesprochen. Entscheidungen wurden schneller umgesetzt. Es sind erste produktive Konflikte entstanden, ein gutes Zeichen.

Analyse: Was dieser Fall zeigt

Der Fall Marenko ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch, insbesondere für inhabergeführte Mittelständler mit starker Gründer- oder Patriarchenprägung.

Er zeigt fünf zentrale kommunikative Bruchlinien:

  1. Formale Nachfolge ≠ symbolische Nachfolge

    Die juristische Übergabe ist nicht gleichbedeutend mit Akzeptanz in der Organisation. Ohne symbolische Akte bleibt die Nachfolge unvollständig.

  2. Die Bedeutung des Schweigens

    Was nicht gesagt wird, wird interpretiert, meist negativ. Schweigen erzeugt Unsicherheit, fördert Gerüchte und stärkt alte Machtverhältnisse.

  3. Sprache als kulturelle Praxis

    Führungskommunikation muss anschlussfähig sein, aber auch transformieren. Neue Sprache braucht Kontext, Deutung und Begleitung.

  4. Die Loyalität zu Personen, nicht zu Funktionen

    In vielen Familienunternehmen besteht die Bindung der Mitarbeitenden primär zur Person des Inhabers, nicht zur Rolle oder zur Struktur.

  5. Narrative Leere führt zu Orientierungsverlust

    Ohne ein gemeinsames Narrativ („Warum übernimmt er? Was ist seine Vision?“) fehlt der Organisation eine gemeinsame Geschichte.

Handlungsempfehlungen aus der Forschungspraxis

Aus zahlreichen Interviews und Fallanalysen kristallisieren sich bewährte Kommunikationspraktiken heraus, die Übergänge wie bei Marenko konstruktiv begleiten können:

  • Geplante Übergabekommunikation als Projekt aufsetzen

    Mit klaren Meilensteinen: Verabschiedung, Einführung, gemeinsames Statement, Symbolik.

  • Narrative Gestaltung bewusst vornehmen

    „Was erzählen wir über diese Nachfolge und warum jetzt?“ Eine gemeinsame Kommunikationslinie mit einer Vorher–Nachher-Botschaft ist entscheidend.

  • Alte Autoritäten aktiv entmachten – mit Stimme, nicht mit Schweigen

    Ein öffentliches Statement des Seniors ist oft wichtiger als jede Eintragung im Handelsregister.

  • Kommunikation begleiten – nicht delegieren

    Familieninterne Moderation, externer Coach oder Kommunikationsberatung kann die stillen Räume öffnen.

  • Symbolische Gesten ernst nehmen

    Der neue E-Mail-Footer, der Platz am Konferenztisch, die Begrüßung auf der Website, all das wirkt.

Fazit: Es braucht Sprache für Veränderung, nicht nur Struktur

Der Fall Marenko steht exemplarisch für viele Übergaben im deutschen Mittelstand, die strukturell sauber geplant, aber kommunikativ unterbelichtet,  erfolgen. Die Folge ist kein offener Bruch, sondern eine langsame Erosion von Vertrauen, Klarheit und Akzeptanz.

Nachfolge ist mehr als nur Strategie, Steuer und Struktur. Sie ist vor allem: Kommunikation. Und diese beginnt dort, wo jemand bereit ist, nicht nur zu handeln, sondern zu sprechen.

Am Ende war es bei Marenko ein einziger Satz, der den Unterschied machte:

„Er hat mein volles Vertrauen.“

Ein Satz, gesprochen vom Richtigen, zur richtigen Zeit. In einem Raum, der dafür lange bereit war – und nur darauf wartete, dass ihn endlich jemand öffnet.


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