1. Der scheinbare Wechsel – Übergabe ohne Übergang

Es war ein typisches mittelständisches Unternehmen im Herzen Süddeutschlands. Seit über 40 Jahren fest in Familienhand, geprägt von technischem Know-how, treuen Mitarbeitenden und einem patriarchalisch geprägten Führungsstil. Die Firma – im Anlagenbau tätig – hatte unter der Leitung ihres Gründers einen beachtlichen Wachstumspfad hingelegt. Doch mit dem Eintritt in die dritte Generation wurde klar: Es würde keine familieninterne Nachfolge mehr geben.

Stattdessen entschied man sich – nach langen Diskussionen im Familienkreis – für eine externe Lösung. Ein Geschäftsführer mit langjähriger Branchenerfahrung und digitalem Profil sollte das Unternehmen übernehmen und in die Zukunft führen. Der Vorgänger, heute 71 Jahre alt, wollte sich „schrittweise zurückziehen“, wie es in der Pressemeldung hieß. Ein Klassiker.

Was auf dem Papier strukturiert und rational wirkte, entpuppte sich schnell als ein emotional aufgeladener, strukturell widersprüchlicher und symbolisch ungeklärter Prozess.

Die Übergabe wurde organisiert. Die Tinte unter dem neuen Geschäftsführervertrag war kaum trocken. Doch der Altinhaber war weiterhin täglich im Haus, saß im angestammten Eckbüro, nutzte den gleichen Parkplatz, führte Hintergrundgespräche mit Lieferanten – und agierte als wäre nichts gewesen.

Gleichzeitig sollte der neue Geschäftsführer mit neuen Strategien und digitalen Ideen frischen Wind bringen. Doch der Wind blieb aus – weil kein Raum zum Wehen vorhanden war.

2. Der neue Geschäftsführer – Mandat ohne Macht

Der Nachfolger, wir nennen ihn Herr W., war kein Anfänger.

Er hatte in mehreren Unternehmen der Branche bereits Restrukturierungen durchgeführt, war in Familienkontexten geschult und galt als analytisch, fair und teamorientiert. Er trat die Position mit großem Respekt an – gegenüber der Unternehmensgeschichte, dem Lebenswerk des Seniors und dem Vertrauen der Familie. Doch schnell musste er erkennen: Sein Mandat war formal vorhanden, aber praktisch blockiert.

Das begann bereits beim Empfang. Die Empfangsmitarbeiterin begrüßte weiterhin nur den Altinhaber mit Handschlag, der neue Geschäftsführer wurde als „Kollege von Herrn X“ angekündigt. Der Kalenderzugriff war nur eingeschränkt freigeschaltet. Der monatliche Jour fixe mit dem Führungskreis fand weiter im „Konferenzraum Gründerblick“ statt – benannt nach dem Altinhaber, der sich regelmäßig und ungefragt in die Sitzungen einschaltete.

Noch gravierender war die informelle Kommunikation:

– Ein zentraler Produktionsleiter ließ sich weiterhin alle Entscheidungen vom Senior „absegnen“.

– Der Vertriebsleiter berichtete dem neuen CEO nur zögerlich – und schickte wichtige Unterlagen immer auch in Kopie an den Altinhaber.

– Bei internen Veranstaltungen richteten sich die Blicke immer wieder suchend auf „den Alten“, wenn es um heikle Themen ging.

Herr W. versuchte, die Balance zu halten. Er wollte die Belegschaft nicht verunsichern, den Senior nicht brüskieren und dennoch seinen Führungsauftrag wahrnehmen. Doch die Realität war: Er war sichtbar – aber nicht wirksam.

Er selbst formulierte es im späteren Interview so:

„Ich war Geschäftsführer auf dem Papier. Aber im System war ich eher Gast – geduldet, höflich begrüßt, aber nicht gefragt, wenn es ernst wurde.“

Diese Situation führte zu einem hochgradig paradoxen Zustand:

  • Das Unternehmen hatte offiziell eine neue Führung.

  • Die Belegschaft wusste davon – handelte aber nicht entsprechend.

  • Der Vorgänger war „nicht mehr verantwortlich“ – entschied aber faktisch mit.

  • Und der Nachfolger versuchte zu gestalten – ohne Gestaltungsmacht.

 

In der Sprache Deines MSTM-Modells:

– Das Mandat war übertragen, aber nicht legitimiert.

– Die Struktur war formal neu, aber symbolisch unverändert.

Vertrauen entstand nicht, weil die Mechanismen blockiert waren.

– Der notwendige Mechanismus des Rückzugs wurde nicht umgesetzt – zumindest nicht in der Tiefe, die erforderlich gewesen wäre.

Das Ergebnis:

  • Führungslücke.

  • Rollenchaos.

  • Frustration auf allen Seiten.

4. Die Organisation dazwischen – Loyalitätskonflikte und Strukturambivalenzen

Während sich der neue Geschäftsführer bemühte, seinen Platz im Unternehmen zu finden, geriet die Organisation selbst in einen Schwebezustand. Die formelle Macht lag zwar bei Herrn W., doch der informelle Einfluss des Altinhabers blieb ungebrochen – und das führte zu einem gefährlichen Dilemma auf Seiten der Mitarbeitenden:

Wem gegenüber schulden wir Loyalität?

Diese Frage stellte sich nicht nur für das obere Führungsteam, sondern durchzog die gesamte Organisation wie ein unsichtbarer Riss. Besonders betroffen war das mittlere Management – jene Schicht, die tagtäglich zwischen Strategie und Umsetzung, zwischen Führungsanspruch und Belegschaft vermitteln musste.

Ein Bereichsleiter aus dem technischen Einkauf schilderte die Situation in einem späteren Gespräch so:

„Wir haben Herrn W. natürlich als neuen Chef akzeptiert. Aber wenn Herr X plötzlich wieder durch die Werkshallen ging, Hände schüttelte und Fragen stellte – dann spürte man: Die Macht ist noch da. Und sie wirkt.“

3.1. Doppelbindungen und das Paradoxon der Loyalität

Aus systemischer Sicht entsteht in solchen Situationen ein klassischer Double-Bind-Konflikt: Die Mitarbeitenden erhalten zwei widersprüchliche Impulse

Folge der neuen formalen Führung

Ignoriere nicht die informellen Machtstrukturen des Altinhabers

Das Ergebnis: Verunsicherung, Intransparenz und Selbstschutzverhalten.

– Entscheidungen werden verzögert oder doppelt abgesichert.

– Informationen zirkulieren selektiv.

– Verantwortungsübernahme wird vermieden, um sich nicht zwischen zwei Polen entscheiden zu müssen.

Dieses Verhalten ist keine Böswilligkeit – es ist ein organisationaler Schutzmechanismus. Die Beschäftigten reagieren auf eine ambivalente Führungsstruktur mit angepasster Unsichtbarkeit.

Sie spüren: Wer sich zu früh eindeutig positioniert, riskiert persönliche Konsequenzen – sei es im Zugriff auf Budgets, bei Projektverteilungen oder in der impliziten Bewertung.

3.2. Raumlogiken als Verstärker der Verwirrung

Hinzu kamen räumliche Verstärker der Doppelbindung. Das Büro des neuen Geschäftsführers war lediglich eine Glastür vom Büro des Seniors entfernt. Die Besprechungsräume waren nicht neu zugeordnet. Inoffiziell galt weiterhin:

– Große strategische Meetings im „Gründerzimmer“

– Mitarbeitergespräche: besser mit Herrn X abstimmen

– Lieferantentermine: Einladung „über die alte Leitung“ effizienter

Diese Raumlogik wirkte nicht nur auf die Wahrnehmung der Belegschaft, sondern auch auf externe Stakeholder. Ein langjähriger Key Account Manager aus dem Kundenumfeld sagte:

„Für uns war das verwirrend. Wer trifft jetzt Entscheidungen? Herr W. saß uns gegenüber, aber der Senior hat am nächsten Tag nochmal angerufen.“

So wurde die räumliche Nähe des Altinhabers zur operativen Organisation zur symbolischen Verfestigung der alten Ordnung – und damit zur Blockade jeglicher Veränderung.

3.3. Die implizite Kultur: Leistung vs. Loyalität

Besonders auffällig war ein Phänomen, das in der Nachfolgeforschung häufig beschrieben, jedoch selten empirisch belegt wird: die Spannung zwischen Leistungsorientierung und Loyalitätslogik.

Viele Mitarbeitende, insbesondere solche mit langer Betriebszugehörigkeit, fühlten sich primär der Gründerperson verbunden – nicht der Funktion, dem System oder der Organisation.

Ein Produktionsmeister brachte es auf den Punkt:

„Herr X hat uns aufgebaut. Er hat immer gesagt: Wer zu mir steht, für den stehe ich ein. Das vergisst man nicht. Da braucht’s mehr als ein neues Logo und eine neue Führungskraft.“

Diese Aussage zeigt: Nachfolgeprozesse berühren kollektive Identitäten.

Die Belegschaft identifiziert sich nicht nur über Produkte oder Prozesse – sondern über Geschichten, Beziehungen, geteilte Erfahrungen. Wird diese Verbindung nicht aktiv aufgegriffen, entsteht ein emotionales Machtvakuum, das weder durch neue Stellenbeschreibungen noch durch neue Strategiepapiere geschlossen werden kann.

In diesem Fall versäumte es das Unternehmen, die Rolle des neuen Geschäftsführers kommunikativ, symbolisch und strukturell zu verankern.

Das Resultat:

Rollenunklarheit im Führungsteam

Raumkollisionen ohne Strukturveränderung

Rückzug des Seniors ohne Prozess – aber mit Wirkung

3.4. Mögliche Entlastung: Reflexion oder Mediation?

Erst nach mehreren Monaten, einem verfehlten Jahresziel und wachsender Frustration kam Bewegung in die Situation. Der neue Geschäftsführer brachte das Thema erstmals klar im Beirat zur Sprache – nicht als Vorwurf, sondern als strukturierte Reflexion:

„Ich habe kein Problem mit Einfluss – solange er sichtbar, vereinbart und transparent ist. Momentan aber habe ich ein Mandat, das nicht durchdringt. Und das Unternehmen leidet darunter.“

Dieser Impuls führte zu einer internen Mediation, moderiert von einem externen Berater mit Erfahrung in Nachfolgekonflikten. Es war der erste Moment, in dem die Organisation ihre innere Zerrissenheit artikulieren konnte– ohne Schuldzuweisung, aber mit Klarheit über die Konsequenzen.

4. Der Wendepunkt – Zwischen Eskalation und Entscheidung

In Übergangsprozessen bleibt oft lange unklar, ob und wann ein Wendepunkt eintreten wird. In der hier geschilderten Fallkonstellation verdichteten sich die Spannungen über Monate. Der neue Geschäftsführer war sichtbar überfordert – nicht fachlich, sondern systemisch. Die Führungskräfte pendelten zwischen beiden Machtpolen. Die Belegschaft spürte die Unsicherheit, die Fluktuation nahm zu, Schlüsselpersonen zogen sich zurück. Doch es brauchte einen konkreten Anlass, um die Lage auf den Punkt zu bringen.

Dieser kam durch ein Projekt mit hoher strategischer Bedeutung – ein digitaler Zwilling für ein zentrales Produktsegment. Das Projekt war vom Nachfolger initiiert worden, im Vorstand abgestimmt, mit externer Unterstützung geplant. Doch in einer späten Phase des Projekts intervenierte der Altinhaber informell – nicht über den offiziellen Kanal, sondern durch einen persönlichen Anruf beim Leiter Technik, mit der Aussage:

„Ich würde das so nicht machen. Da verbrennen wir nur Geld.“

Der Leiter reagierte daraufhin verunsichert, verzögerte die Freigabe weiterer Mittel – und das Projekt kam ins Stocken. Die Folge: ein öffentlich sichtbarer Stillstand, eine Irritation im Kundenkreis und eine offene Konfrontation in der nächsten Geschäftsleitungssitzung.

4.1. Die Konfrontation: Sichtbarkeit statt Schweigen

Für viele Familienunternehmen ist das unausgesprochene Problem die stabilere Form des Konflikts. Solange nichts direkt adressiert wird, können alle Beteiligten in ihren Rollen bleiben. In diesem Fall aber wurde klar: Der Status quo war nicht mehr haltbar. Der Altinhaber hatte mit seiner Intervention eine Grenze überschritten – nicht aus böser Absicht, sondern aus einer tiefen Überzeugung heraus, das Unternehmen weiterhin beschützen zu müssen.

Der neue Geschäftsführer sprach das Thema offen an – im Plenum, mit klarem Ton, aber respektvoll:

„Wenn es zwei Meinungen gibt, ist das normal. Wenn es zwei Autoritäten gibt, ist das gefährlich.“

Dieser Satz wirkte. Zum ersten Mal wurde der Konflikt nicht als persönliches Missverständnis, sondern als strukturelle Blockade der Nachfolge benannt.

Einige Mitglieder des Führungskreises atmeten hörbar auf. Die Spannung wich – nicht weil das Problem gelöst war, sondern weil es endlich ausgesprochen war.

4.2. Die Entscheidung: Mediation und Strukturveränderung

Der Beirat, bislang eher moderat involviert, wurde nun aktiv. Auf Vorschlag eines externen Mitglieds wurde eine systemische Mediation initiiert – mit dem klaren Ziel, die Führungsstruktur zu entwirren und die narrative wie symbolische Unklarheit zu beheben.

In der Mediation zeigte sich schnell: Der Altinhaber wollte nicht blockieren, aber er konnte sich selbst nicht aus der Rolle herausnehmen.

Er formulierte sinngemäß:

„Ich sehe Dinge, die nicht passen. Ich kann nicht einfach zuschauen, wenn etwas schiefläuft. Dafür hänge ich zu sehr an dem Laden.“

Gleichzeitig wurde deutlich: Das Unternehmen war nicht in der Lage, ihn loszulassen, solange er physisch und kommunikativ präsent blieb. Es fehlte an Raum für Neues, weil das Alte physisch blieb – und zwar nicht nur in Form des Altinhabers, sondern auch in Symbolen, Räumen, Routinen.

Die Lösung bestand daher nicht in einem symbolischen Handschlag oder einer Pressemitteilung – sondern in einem konsequenten Struktur- und Raumwechsel, der in drei Phasen vollzogen wurde:

  1. Funktionale Entflechtung:

    Der Altinhaber gab seinen Beiratsvorsitz ab, übertrug alle operativen Rechte und erhielt lediglich eine Ehrenfunktion ohne Entscheidungsrechte.

  2. Räumliche Trennung:

    Sein Büro wurde geschlossen. Er bezog ein kleines externes Büro, das bewusst nicht mehr am Hauptsitz lag. In der Unternehmenskommunikation wurde sein Rückzug explizit benannt.

  3. Narrative Neuausrichtung:

    In einer internen Townhall wurde die neue Rolle des Geschäftsführers betont – nicht als „Nachfolger von“, sondern als „Gestalter der nächsten Phase“. Gleichzeitig wurde das Lebenswerk des Altinhabers gewürdigt, nicht abgewertet.

 

Ein Mitarbeiter formulierte im Anschluss an die Veranstaltung:

„Das war das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie ernst es Herr W. meint – und wie viel Mut er hat. Und wie viel Würde im Rückzug von Herrn X lag.“

4.3. Warum der Wendepunkt wirkt – und warum er so selten gelingt

Wendepunkte in Nachfolgeprozessen sind keine Garantien für Erfolg. Doch sie sind notwendige Schwellen, an denen systemische Blockaden erkannt, benannt und bearbeitet werden können.

In diesem Fall war der Wendepunkt erfolgreich, weil:

  • die Konflikte sichtbar wurden

  • die Machtfrage thematisiert wurde

  • eine externe Moderation half, Gesichtsverlust zu vermeiden

  • der Rückzug nicht als Kapitulation, sondern als Leistung inszeniert wurde

 

Viele andere Fälle, auch in Deiner Forschung (vgl. Case Gamma und Zeta), scheitern genau daran:

– Die Unsichtbarkeit der Macht

– Die Sprachlosigkeit in der Organisation

– Die Tabuisierung des Rückzugs

Der hier beschriebene Wendepunkt ist somit nicht nur ein operatives Ereignis, sondern ein narrativer und struktureller Knotenpunkt:

Ab hier beginnt der eigentliche Prozess der Nachfolge – mit Rollenklärung, Raumgestaltung und legitimem Rückzug.

5. Die Entflechtung – Wie Rolle, Raum und Rückzug gelingen können

Die Eskalation war der Anfang. Die Entscheidung zur Mediation war der Durchbruch. Doch das eigentliche Kunststück bestand in der Zeit danach: in der strukturierten, schrittweisen Entflechtung von Rollen, Räumen und Machtansprüchen, ohne Gesichtsverlust, ohne Verlierer – und mit der klaren Absicht, dem Unternehmen wieder Führungssicherheit und Zukunftsenergie zu geben.

Denn eines wurde allen Beteiligten schnell klar: Ein bloßes „Zurückziehen“ würde nicht genügen. Es brauchte aktive Gestaltung des Rückzugs – strategisch, symbolisch und systemisch.

5.1. Rollen klären – zwischen Status, Funktion und Würde

Zunächst wurde die Rollenstruktur überarbeitet. Der Altinhaber erhielt eine neue, bewusst begrenzte Bezeichnung: Ehrenvorsitzender der Unternehmerfamilie. Diese Rolle war nicht operativ gebunden, aber in der Kommunikation präsent: Sie ermöglichte es dem Senior, weiterhin bei Jubiläen, Unternehmensbesichtigungen oder als „Geschichtenerzähler“ aufzutreten, ohne faktisch in Entscheidungen eingreifen zu können.

Der neue Geschäftsführer, Herr W., erhielt gleichzeitig eine symbolisch aufgewertete Rolle:

– Er wurde zum alleinigen Geschäftsführer benannt,

– in Pressemitteilungen als „CEO der Zukunftsphase“ bezeichnet,

– und in internen Meetings explizit als Hauptentscheider anerkannt.

Diese neue Rollenverteilung wurde nicht nur beschlossen – sie wurde inszeniert:

– Die neuen E-Mail-Signaturen spiegelten die geänderten Rollen,

– Organigramme wurden angepasst,

– und bei der nächsten Mitarbeiterversammlung wurde die neue Struktur visuell sichtbar gemacht.

5.2. Räume neu denken – und gestalten

Der zweite Schritt betraf die räumliche Ordnung – oft unterschätzt, aber hochwirksam.

Das Büro des Altinhabers wurde nicht einfach weitergegeben, sondern umgewidmet:

– Es wurde zu einem Kommunikationsraum umgebaut,

– in dem Workshops, Townhalls und Innovationsformate stattfanden,

– mit einer kleinen Fotowand der Unternehmensgeschichte im Eingangsbereich.

Das neue Büro des Geschäftsführers lag nun zentral, mit Glaswänden, Nähe zum Team und klarer architektonischer Signalwirkung: Hier wird entschieden. Hier ist Führung sichtbar.

Auch in der Raumplanung der Mitarbeitenden wurde nachgezogen:

– Doppelbelegungen mit dem Altinhaber wurden aufgelöst,

– Besprechungsräume wurden umbenannt,

– Besucherrouten durch das Gebäude wurden angepasst.

So entstand ein visuelles und räumliches Narrativ, das die neue Führung verankerte, ohne das Alte zu entwerten.

5.3. Rückzug ermöglichen – emotional, strukturell, narrativ

Der dritte und entscheidende Schritt war der Rückzug als Führungsleistung.

Der Altinhaber hatte seine Rolle akzeptiert – brauchte nun jedoch eine praktikable Exit-Struktur.

Dazu gehörten:

  • Ein monatliches Reflexionsgespräch mit einem externen Sparringspartner, in dem der Senior seine Gedanken zur Entwicklung einbringen konnte – jedoch nicht zur Entscheidung.

  • Ein symbolischer Abschied bei der nächsten Jahresauftaktveranstaltung – mit einer emotionalen Rede, die ausdrücklich auch Schwächen und Veränderungsthemen ansprach.

  • Eine private Stiftung, die der Altinhaber gründete und in die er seine gesellschaftspolitischen Interessen verlagerte – ein neuer Raum für Wirksamkeit, ohne Rückwirkung auf das Unternehmen.

 

Diese Form des Rückzugs war keine Kapitulation, sondern ein Brückenbau zur nächsten Lebensphase. Und genau das machte ihn wirksam: Der Rückzug wurde nicht als Ende, sondern als Neuorientierung inszeniert.

5.4. Wirkung in der Organisation – was sich (endlich) veränderte

Mit der neuen Rollen- und Raumordnung veränderte sich auch das Verhalten im Unternehmen.

Einige Beobachtungen sechs Monate nach der Entflechtung:

  • Die Führungskräfte sprachen wieder offen – in Meetings, in Entscheidungen, in Konflikten.

  • Das neue Projektportfolio gewann an Dynamik, weil Entscheidungen klar zugeordnet waren.

  • Mitarbeitende zeigten mehr Eigenverantwortung – sie mussten nicht mehr interpretieren, „was Herr X wohl denken würde“.

  • Die Belegschaft fühlte sich endlich wieder „geführt“. Ein Bereichsleiter sagte:

    „Wir wussten vorher, wer zuständig war – jetzt wissen wir auch, wer verantwortlich ist.“

 

Auch im Markt wirkte sich der Übergang aus:

  • Kunden und Partner reagierten positiv auf die neue Klarheit,

  • die Arbeitgebermarke wurde gestärkt,

  • ein strategischer Investor, der zuvor zögerlich war, zeigte konkretes Interesse an einer Beteiligung.

 

5.5. Lessons Learned – warum Entflechtung wirkt

Aus Sicht der Forschung und Praxis lässt sich dieser Fall als Beispiel für nachgeholte Nachfolge deuten.

Die klassische Chronologie wurde durchbrochen – und erst durch Reflexion, Symbolik und systemische Intervention gelang es, das volle Potenzial der neuen Führung freizusetzen.

Im Sinne des MSTM-Modells lassen sich folgende Erfolge festhalten:

Dimension

Gestaltete Veränderung

Mechanism

Mediation, Ehrenvorsitz, neue Entscheidungsprozesse

Structure

Rollenverteilung, Büro- und Raumarchitektur, Kommunikationsflüsse

Trust

Neue Legitimation, sichtbare Rückendeckung des Beirats

Mandate

Anerkannte Führungsverantwortung, sichtbare Autorität

Diese Entflechtung ist nicht nur eine praktische Maßnahme – sie ist auch ein emotionaler, sozialer und strategischer Meilenstein für das Unternehmen. Und sie zeigt:

Nachfolge ist nicht nur ein Wechsel. Sie ist ein Weg. Und Rückzug ist nicht Schwäche – sondern Führung.

6. Reflexion & Learnings – Was Familienunternehmen aus diesem Fall lernen können

Der hier geschilderte Fall ist exemplarisch – nicht in dem Sinne, dass jede Übergabe so dramatisch verläuft, sondern weil er viele der typischen Spannungen offenlegt, die im Prozess der externen Nachfolge auftreten. Er zeigt in aller Deutlichkeit: Selbst wenn Verträge unterschrieben und Nachfolger ernannt sind, beginnt die eigentliche Transformation oft erst dann, wenn unsichtbare Macht, kulturelle Prägung und symbolische Rollenverhältnisse aktiv verhandelt werden.

6.1. Übergabe ≠ Rückzug

Ein zentraler Punkt: Der Rückzug des Vorgängers ist nicht automatisch mit der Übergabe vollzogen.

In vielen Unternehmen besteht die Annahme, man könne mit einer offiziellen Pressemitteilung, einer neuen E-Mail-Signatur und einem organigrammtechnischen Wechsel „die Sache erledigt“ haben. Doch das reicht nicht.

Rückzug muss gestaltet werden. Er ist nicht das Fehlen von Präsenz, sondern das bewusste Einrichten neuer Räume – für den Altinhaber wie für den Nachfolger.

In diesem Fall wurde erst durch die Eskalation sichtbar, wie stark der Altinhaber weiterhin auf das System einwirkte – und wie wenig Raum der neue Geschäftsführer hatte, sein Mandat wirksam umzusetzen. Das eigentliche Problem war nicht Widerstand, sondern Ambivalenz: Der Wille zum Rückzug war da, aber es fehlten Struktur, Sprache und Begleitung.

6.2. Die Rolle als Machtform

Wie Du es in Deiner Forschung und im MSTM-Modell deutlich machst, ist Rolle nicht nur eine formale Position, sondern ein performativer Akt, eine Konstruktion von Legitimität, Erwartungen und Deutungsmacht.

In dem beschriebenen Fall sehen wir, wie eine Rolle, wenn sie nicht explizit neu definiert wird, weiterwirkt – durch Blicke, Räume, Rituale, narrative Gewohnheiten. Der Altinhaber war nicht im Weg, weil er sich bewusst einmischte – sondern weil das System ihn nicht losließ, solange keine neue Rolle sichtbar war.

Die erfolgreiche Entflechtung konnte erst stattfinden, als die Rollen benannt, kommuniziert und zelebriert wurden. Der neue Geschäftsführer erhielt ein echtes Mandat – nicht nur formal, sondern symbolisch. Der Altinhaber bekam eine neue Würde – jenseits der operativen Verantwortung.

6.3. Vertrauen entsteht durch Klarheit – nicht durch Nähe

Ein oft beobachteter Irrtum in Familienunternehmen ist der Glaube, Nähe sei gleichbedeutend mit Vertrauen. Doch insbesondere in Übergangsphasen kann Nähe auch Blockade bedeuten. Nähe ohne Klarheit erzeugt Verwirrung. Vertraut wird nicht der Person, sondern der Rolle – wenn sie konsistent, nachvollziehbar und strukturell abgesichert ist.

In diesem Fall wurde das Vertrauen in den neuen Geschäftsführer nicht durch gemeinsame Mittagessen oder interne Newsletter gewonnen, sondern durch:

  • eindeutige Kommunikationshoheit

  • klare Entscheidungsprozesse

  • sichtbare Räume der Führung

  • und den Rückzug des Seniors aus operativer Verantwortung

 

Diese Elemente sind übertragbar – und sie zeigen: Vertrauen ist keine Emotion. Es ist das Ergebnis eines erkennbaren, stabilen Erwartungssystems.

6.4. Handlungsempfehlungen – in vier Schritten zur gelungenen Übergabe

Aus diesem Fall lassen sich konkrete Empfehlungen ableiten, die sich mit Deinem Modell und bisherigen Forschungserkenntnissen gut verbinden lassen:

Schritt

Ziel

Frage an das Unternehmen

Rollen aktiv gestalten

Macht sichtbar machen und Erwartungen klären

Wer darf was entscheiden – und wer nicht mehr?

Räume neu strukturieren

Sichtbare Symbole der neuen Ordnung schaffen

Wo findet Führung heute statt – und wer sitzt wo?

Rückzug inszenieren

Übergänge emotional wie formal begleiten

Wie verabschieden wir das Alte, ohne es zu entwerten?

Mandate sichern

Vertrauen in neue Führung institutionalisieren

Wie stärken wir die Legitimität des Nachfolgers in allen Gremien?

Diese vier Schritte wirken nur im Zusammenspiel. Eine Rolle ohne Raum bleibt ein Schatten. Ein Mandat ohne Rückzug bleibt eine Behauptung. Und Vertrauen ohne Struktur wird schnell zum Risikofaktor.

6.5. Der größere Rahmen: Rollen. Räume. Rückzug.

Dieser Fall unterstreicht, wie zentral es ist, die unsichtbaren Elemente von Führung sichtbar zu machen.

Du hast in Deinem KW43-Theorieartikel herausgearbeitet, dass Nachfolgeprozesse nicht an Planung oder Verträgen scheitern, sondern an den Zwischenräumen: den unaufgelösten Rollenbildern, der fehlenden Raumlogik und dem fehlenden Rückzug als Führungstat.

Der Fall zeigt, wie diese Dimensionen über Monate blockieren – und wie viel Energie freigesetzt wird, wenn sie bewusst gestaltet werden.

Es ist ein Lehrstück – nicht für einen einzelnen Übergabeprozess, sondern für das gesamte Spannungsfeld von Kontinuität, Macht und Transformation im Mittelstand.


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