1. Unsichtbare Spannungslinien
In vielen Familienunternehmen beginnt die Nachfolge mit einem großen Tag: Einem neuen Namen auf der Visitenkarte, einer Pressemitteilung, einem symbolischen Akt der Übergabe. Der neue Geschäftsführer ist berufen, der Altinhaber zieht sich offiziell zurück. Die Struktur steht. Der Wille ist da. Und doch: Nichts funktioniert so, wie es soll.
Der Grund liegt selten in fehlender Kompetenz. Auch nicht in strategischen Unstimmigkeiten. Sondern in etwas Tieferem, Unausgesprochenem: Die Organisation weiß nicht, wem sie folgen soll.
Denn zwischen Übergabe und tatsächlichem Rückzug klafft in vielen Unternehmen ein Zwischenraum, in dem die formale Führung und die faktische Autorität nicht deckungsgleich sind. Auf dem Papier ist alles klar – doch in der gelebten Realität dominiert Verunsicherung. Wer entscheidet? Wem vertraut man? Wer steht wofür?
Diese Phase der Doppelbindung ist gefährlich. Nicht, weil sie laut eskaliert – sondern weil sie leise lähmt. Projekte geraten ins Stocken. Entscheidungen werden aufgeschoben. Führungskräfte orientieren sich an persönlichen Loyalitäten, nicht an der Struktur. Es entsteht eine Form von Schattenorganisation, die weder kontrollierbar noch steuerbar ist – und im schlimmsten Fall das Unternehmen innerlich aufspaltet.
Wir nennen dieses Phänomen: „Die Organisation zwischen den Stühlen“.
In diesem Beitrag analysieren wir:
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wie sich Doppelstrukturen in der Nachfolgephase aufbauen,
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welche Symptome in der Organisation sichtbar werden,
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wie Mitarbeitende mit Unklarheit umgehen (und dabei oft ungewollt Konflikte verschärfen),
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und wie Unternehmen diesen Zwischenraum wieder klären können – durch Struktur, Sprache und bewusste Rückzugsarchitektur.
Dabei greifen wir auf Erkenntnisse aus der systemischen Beratung, der Familienunternehmensforschung und auf reale Fallbeispiele zurück, u. a. aus Deiner eigenen DBA-Feldstudie.
Denn eines ist klar: Die Organisation spürt Verwirrung, bevor sie benannt wird. Und sie reagiert – nicht immer rational, aber immer systemisch.
2. Der systemische Zwischenraum
In der Übergangsphase zwischen Alt und Neu entsteht häufig ein seltsamer Schwebezustand: Das Alte ist nicht mehr ganz da, das Neue noch nicht vollständig angekommen – und dazwischen versucht die Organisation, sich irgendwie zu orientieren. Genau dieser Zwischenraum ist nicht leer. Er ist voll von Spannung. Und er entfaltet eine Dynamik, die oft unterschätzt wird – aber tief in die Funktionsweise von Familienunternehmen eingreift.
2.1. Zwei Machtzentren – ein System
Wenn ein externer Nachfolger in ein Familienunternehmen eintritt, trifft er auf ein bestehendes System von Beziehungen, Routinen, Loyalitäten und Erwartungen. Selbst wenn das offizielle Mandat übertragen wurde, bleibt das alte Machtzentrum emotional wirksam.
Typische Konstellation:
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Der Altinhaber ist nicht mehr operativ – aber weiterhin sichtbar, präsent, vernetzt.
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Der Nachfolger ist verantwortlich – aber noch nicht legitime Autorität.
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Die Organisation ist loyal gegenüber beiden – aber gleichzeitig überfordert.
Dieses Dilemma wird nicht durch bösen Willen erzeugt, sondern durch fehlende Klärung:
Die Organisation sucht Sicherheit – und findet sie dort, wo Verlässlichkeit und Vertrautheit sind. Oft ist das (noch) der Altinhaber. Gerade in engen, langjährig gewachsenen Mittelstandsumfeldern sind Beziehungen entscheidend – nicht Jobtitel.
Ein Produktionsleiter aus Deiner Fallstudie formulierte das treffend:
„Ich wusste, dass Herr W. der Neue ist. Aber wenn’s ernst wurde, hab ich doch bei Herrn K. angerufen. Der kennt den Kunden. Der kennt mich.“
2.2. Die stille Ko-Regentschaft
So entsteht eine Form der stummen Ko-Regentschaft. Sie ist nicht ausgesprochen – niemand sagt offiziell: „Wir haben zwei Chefs.“ Und doch funktioniert das System so:
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Entscheidungen werden doppelt abgesichert.
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Mails werden an beide geschickt – zur Sicherheit.
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Informelle Updates laufen über alte Kanäle.
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Belegschaftsvertreter sprechen weiterhin „beim Alten vor“.
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Führungskräfte passen sich an – und entscheiden situativ, an wen sie sich wenden.
Die Folge:
Entscheidungslogiken verschwimmen. Es entstehen Grauzonen. Konflikte werden nicht offen, sondern durch Vermeidung gelöst. Das Unternehmen gerät in einen Zustand des strukturellen Flackerns – sichtbar an zögerlichen Projekten, schwelenden Missverständnissen, rückläufiger Verantwortungsübernahme.
Systemtheoretisch gesprochen:
Die Organisation produziert Widersprüchlichkeit, weil sie zwei widersprüchliche Bezugspunkte hat – einen alten, historisch aufgeladenen Referenzrahmen, und einen neuen, noch nicht integrierten Führungsimpuls.
2.3. Die Dynamik der Nähe
Ein zusätzlicher Verstärker dieser Zwischenlage ist das Thema Nähe. In Familienunternehmen sind Beziehungen oft nicht nur funktional, sondern emotional codiert: Der Altinhaber ist nicht nur „der Chef“, sondern „der, der mich eingestellt hat“, „der, der da war, als mein Vater starb“, „der, der die Weihnachtsfeier persönlich moderiert hat“.
Diese emotionale Nähe erschwert eine funktionale Neuorientierung. Mitarbeitende fühlen sich innerlich verpflichtet, loyal zu bleiben – selbst wenn sie wissen, dass jemand anderes jetzt „offiziell zuständig“ ist.
Und auch der Altinhaber kommt oft nicht los – nicht aus Ego, sondern aus Sorge:
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„Was passiert mit den Leuten?“
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„Der Neue kennt die Kultur nicht.“
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„Das war mein Lebenswerk.“
Ohne explizite Begleitung entsteht hier eine unbewusste Rückkehrdynamik – die Organisation ruft nach dem Vertrauten, und der Altinhaber reagiert reflexhaft.
2.4. Die Unsichtbarkeit der Krise
Das tückische an diesem Zwischenraum ist: Er schreit nicht.
Er flüstert. Er äußert sich in Kleinigkeiten. In Nebensätzen. In fehlenden Entscheidungen. In Kommunikationsvermeidung. Und darin, dass alle Beteiligten das Gefühl haben, „irgendwas stimmt nicht“, aber niemand weiß genau, was – oder wagt, es auszusprechen.
Beispiele aus Interviews:
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„Ich wollte nicht illoyal wirken.“
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„Ich hab gedacht, der Alte kommt eh wieder.“
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„Der Neue hat sich bemüht, aber irgendwie ist nichts vorangegangen.“
Die Organisation lebt in einem Zustand der Verzögerung – sie hält inne, wartet, beobachtet, testet. Und diese Haltung kostet: Innovationskraft, Geschwindigkeit, Klarheit, Motivation.
Der systemische Zwischenraum ist kein Kollateralschaden, sondern ein zentrales Risiko im Übergabeprozess. Er entsteht nicht aus bösem Willen, sondern aus struktureller Unklarheit – und er löst Dynamiken aus, die Organisationen schwächen können, selbst wenn wirtschaftlich alles stimmt.
Wer Nachfolge ernst nimmt, muss diesen Zwischenraum gestalten – nicht ignorieren.
Denn wo zwei Pole wirken, folgt das System der stärkeren Gravitation – und das ist oft der Vergangenheit.
3. Symptome der Führungslosigkeit – Wie Verwirrung sichtbar wird
Führungslosigkeit im Übergabeprozess ist selten ein plötzliches Ereignis. Sie tritt nicht als klar definierte Krise auf, sondern als schleichende Erosion von Klarheit. Die Organisation sendet Signale – aber oft werden sie überhört oder falsch gedeutet. Dabei sind diese Symptome äußerst präzise. Sie zeigen, wo Entscheidungsräume offenbleiben, Verantwortung ausweicht und Strukturen versagen.
3.1. Mikrosymptome – Die Sprache des Alltags
Viele Symptome der Führungslosigkeit sind klein, beiläufig und harmlos wirkend – aber systemisch hochbedeutsam. Sie treten meist im informellen Raum auf:
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Verzögerte Entscheidungen: Projektstarts werden verschoben, Freigaben dauern ungewöhnlich lange.
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Doppelte Kommunikation: Mails werden sowohl an den Nachfolger als auch an den Altinhaber geschickt – oft mit der Formulierung „nur zur Info“.
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Rückfragen an den Falschen: Mitarbeitende gehen zu dem, der ihnen vertrauter ist – nicht zu dem, der formal zuständig ist.
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Nebensätze mit Bedeutung: „Ich frage da lieber nochmal bei Herrn X.“ – obwohl Herr X gar nicht mehr verantwortlich ist.
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Meeting-Schatten: Der Altinhaber wird zu Besprechungen eingeladen, ohne dass es offiziell abgesprochen wurde – „einfach, weil es immer so war“.
Diese Mikrosymptome wirken wie Risse in der Oberfläche – unsichtbar von außen, aber intern als dauerhafte Irritation spürbar.
3.2. Makrosymptome – Wenn Strukturen kippen
Über längere Zeiträume manifestiert sich Führungslosigkeit in strukturellen Phänomenen, die schwerer zu übersehen sind:
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Projektverzögerungen: Neue Initiativen versanden, weil Zuständigkeiten unklar bleiben.
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Verlust von strategischer Energie: Es wird reagiert statt gestaltet; operative Hektik ersetzt langfristige Planung.
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Kundenfeedback verändert sich: Außenstehende nehmen Irritation wahr – etwa, wenn Ansprechpartner:innen wechseln oder sich zurückhalten.
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Verlust an Verantwortungsgefühl: Mitarbeitende sagen häufiger „das muss die Geschäftsführung entscheiden“, obwohl vorher Eigenverantwortung selbstverständlich war.
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Personalfluktuation: Schlüsselpersonen gehen, weil sie spüren: Das Unternehmen steht, aber bewegt sich nicht mehr.
Gerade im Mittelstand, wo Entscheidungswege kürzer und kulturelle Nähe größer ist, zeigen sich diese Phänomene sehr schnell – aber selten wird ihre Ursache klar benannt: strukturelle Ambivalenz durch fehlende Führungsklarheit.
3.3. Rollenverwirrung als Dauerzustand
Ein besonders gefährlicher Effekt ist die Rollenverwirrung. Sie betrifft nicht nur den Altinhaber und den Nachfolger, sondern alle relevanten Stakeholder im Unternehmen:
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Rolle |
Verwirrungssymptom |
|---|---|
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Führungskraft |
Unklar, wer der strategische Sparringspartner ist |
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Mitarbeitende |
Loyalität zu Personen, nicht zur Funktion |
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Kunden/Partner |
Uneindeutigkeit, wer Entscheidungen vertritt |
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Beiräte/Aufsicht |
Fehlende Ansprechpartner für strategische Diskussionen |
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Verwaltung/HR |
Unsicherheit, welche Führungskraft bei Konflikten einzubinden ist |
Diese Rollenverwirrung erzeugt eine paradoxe Situation: Es wird ständig kommuniziert, aber nichts wird entschieden. Es entsteht eine Art organisationales Nebelklima, das nicht durch fehlende Information entsteht, sondern durch zu viel widersprüchliche Signale.
3.4. Schattenführung & informelle Rückkanäle
Eine besonders heikle Dynamik ist das Entstehen von informellen Rückkanälen. In der Praxis bedeutet das:
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Entscheidungen des neuen Geschäftsführers werden beim Altinhaber „geprüft“.
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Mitarbeitende holen sich informelles „Go“ bei der alten Führung – „für die Sicherheit“.
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Der Altinhaber wird zum Grauen Rat – er entscheidet nicht offiziell, aber er beeinflusst durch Fragen, Reaktionen, Körpersprache.
Diese Schattenführung ist selten beabsichtigt – aber sie ist hochwirksam, solange sie nicht thematisiert wird. Sie verhindert die Entwicklung eines neuen Führungsnarrativs und beschädigt die Legitimität der Nachfolge.
3.5. Die Organisation verliert ihr Selbstbild
Der wohl größte Schaden ist nicht operativ, sondern kulturell:
Die Organisation verliert ihr Selbstverständnis.
Wenn über längere Zeit nicht klar ist, wer für was steht, entsteht nicht nur Unsicherheit – sondern ein Vertrauensverlust in das System selbst.
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„Wer führt hier eigentlich?“
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„Wofür stehen wir gerade?“
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„Was ist unser Kurs?“
Diese Fragen sind nicht banal. Sie betreffen das kollektive Selbstbild, die kulturelle Kohärenz, die Sinnstiftung. Und genau diese Dimension ist für den deutschen Mittelstand essenziell – gerade in Familienunternehmen, in denen Identifikation oft über Generationen gewachsen ist.
Führungslosigkeit ist kein Zufall. Sie ist das Ergebnis nicht geklärter Rollen, nicht vollzogener Rückzüge und nicht gelebter Strukturen. Ihre Symptome sind subtil, aber eindeutig – für jene, die genau hinschauen.
Und sie sind heilbar – wenn Klarheit, Kommunikation und Konsequenz einkehren.
4. Die Sprache der Zwischenzeit – Wenn Worte verschleiern, was nicht ausgesprochen wird
In Übergabeprozessen von Familienunternehmen spielt Sprache eine zentrale Rolle – nicht nur als Mittel der Kommunikation, sondern als Ausdrucksmittel für Macht, Unsicherheit und Identität. Besonders im Übergangsraum zwischen Alt und Neu, wenn die Rollen noch nicht neu geordnet, aber auch nicht mehr eindeutig verortet sind, entstehen narrative Spannungsfelder: Halbsätze, Euphemismen, symbolische Gesten – sie alle werden zu Stellvertretern für eine unausgesprochene Wirklichkeit.
4.1. Euphemismen des Übergangs
Der Übergang wird häufig mit einer Sprache der Verharmlosung begleitet. Was als tiefgreifender Wandel empfunden wird, wird sprachlich klein gemacht:
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„Der Alte ist nur noch da zur Unterstützung.“
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„Wir machen das jetzt gemeinsam – auf Augenhöhe.“
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„Das ist ein fließender Prozess – da braucht es keine harten Schnitte.“
Diese Formulierungen sollen beruhigen, Sicherheit vermitteln, Vertrautheit erhalten. Tatsächlich aber vernebeln sie oft die Dringlichkeit der Klärung. Denn in Wahrheit herrscht kein Gleichgewicht, sondern eine Ambivalenz – und diese erzeugt Reibung.
Ein Interviewpartner aus Deiner Forschung sagte dazu:
„Es hieß immer: ‘Das ist kein Machtwechsel, sondern ein Übergang.’ Aber für uns war’s genau das – ein Wechsel. Nur halt ohne Ansage.“
Diese Form der Vermeidungssprache schützt kurzfristig Beziehungen – aber sie verhindert langfristig Orientierung.
4.2. Narrative der Loyalität
In vielen Familienunternehmen ist die Loyalität gegenüber dem Altinhaber tief verankert. Mitarbeitende, die Jahrzehnte unter derselben Führung gearbeitet haben, nutzen Sprache nicht nur zur Kommunikation, sondern zur Abgrenzung und Zugehörigkeit.
Typische Sprachbilder:
-
„Das haben wir früher immer so gemacht.“
-
„Herr K. würde das nie genehmigen.“
-
„Ich weiß nicht, ob das in seinem Sinne ist.“
Diese Aussagen wirken harmlos, aber sie sind Ausdruck eines narrativen Rückgriffs: Statt sich an neue Strukturen zu gewöhnen, wird das kollektive Gedächtnis bemüht – als schützendes Referenzsystem. Es entsteht eine Art sprachliches Loyalitätsbekenntnis, das jede Veränderung unter einen unausgesprochenen Rechtfertigungszwang stellt.
4.3. Die Sprachlosigkeit der Neuen
Besonders prekär wird es, wenn die neuen Führungskräfte selbst sprachlich zurückhaltend bleiben. Um nicht als zu forsch, zu dominant oder zu unhöflich zu gelten, vermeiden sie oft klare Aussagen – und reproduzieren so das Klima der Unsicherheit.
Statt:
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„Ich übernehme ab jetzt Verantwortung für dieses Thema.“
heißt es oft:
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„Vielleicht könnten wir das jetzt anders angehen.“
-
„Ich schlage vor, wir prüfen mal…“
Diese vorsichtige Sprache ist verständlich – aber sie wird nicht als Führung wahrgenommen. In einem System, das stark über implizite Ordnung funktioniert, wird Unklarheit in der Sprache als Unentschlossenheit im Mandat interpretiert.
Und hier liegt der Kern des Problems:
Wer nicht klar spricht, wird nicht als legitim erlebt.
Wer zu viel spricht, ohne zu handeln, wirkt aufgesetzt.
Wer schweigt, überlässt dem System die Deutungshoheit.
4.4. Sprachliche Symbole und Körpersprache
Neben verbalen Aussagen spielen auch Gesten, Rituale und symbolische Sprache eine entscheidende Rolle:
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Der Altinhaber, der weiterhin den Konferenzraum „Gründerblick“ betritt – ohne Einladung.
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Der neue Geschäftsführer, der keinen eigenen Parkplatz hat.
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Die Weihnachtsansprache, die vom „Patriarchen“ gehalten wird – nicht von der neuen Führung.
Diese symbolischen Handlungen sprechen lauter als jede Pressemitteilung. Sie wirken wie narrative Anker – und sie stiften entweder Klarheit oder Ambivalenz. Besonders im Mittelstand, wo nonverbale Kommunikation tief verankert ist, entsteht dadurch ein subtiles Spiel um Deutungshoheit.
4.5. Die Macht der Klartext-Kultur
Gelingende Übergänge brauchen eine Kultur des Klartextes – nicht im Sinne von Härte, sondern im Sinne von kluger, strukturierter und respektvoller Sprache:
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Was ist wirklich entschieden?
-
Wer ist wofür verantwortlich?
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Wer tritt zurück – und in welchem zeitlichen, räumlichen und symbolischen Rahmen?
Diese Fragen müssen ausgesprochen werden – nicht nur in Protokollen, sondern im Alltag. Eine klare Sprache schafft Struktur – sie entlastet die Organisation und schützt Beziehungen, weil sie Erwartungen transparent macht.
Die Sprache im Übergangsprozess ist nie neutral. Sie ist Werkzeug, Spiegel und Verstärker zugleich. Wer Nachfolge gestalten will, muss ihre narrative Dynamik verstehen – und den Mut haben, aus dem Nebel der Vermeidung in die Klarheit der Aussage zu treten.
Denn dort, wo nicht gesprochen wird, entstehen Geschichten – und sie sind oft wirkmächtiger als jede Strategie.
5. Fallbeispiel – Zwei Chefs, kein Kurs: Der stille Stillstand bei der Albrecht & Sohn GmbH
Das Unternehmen:
Die Albrecht & Sohn GmbH ist ein traditionsreicher Zulieferer für industrielle Verpackungslösungen im süddeutschen Raum – inhabergeführt in dritter Generation, rund 130 Mitarbeitende, hohe Kundenbindung, stabile wirtschaftliche Lage. Der Senior, Herr Hans Albrecht (63), hat das Unternehmen drei Jahrzehnte geprägt – als Vollblutunternehmer mit hohem operativem Einfluss. Die Übergabe wurde früh vorbereitet. Der externe Nachfolger, Herr Matthias Degenhardt (46), wurde nach einer strukturierten Auswahl mit Beiratseinbindung berufen. Er kommt aus einem internationalen Konzernumfeld, bringt breite Führungserfahrung und wurde intern freundlich aufgenommen.
Das Setup:
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Juristisch: Alle Rechte, Pflichten und Zeichnungen wurden auf Degenhardt übertragen.
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Formal: Hans Albrecht ist nicht mehr Geschäftsführer, hat keinen Arbeitsvertrag mehr.
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Informell: Der Senior ist „regelmäßig im Haus“, hat ein Büro, wird zu Managementrunden eingeladen („als Sparringspartner“) – auf Wunsch des Beirats.
Was als idealer Übergang geplant war, wurde zum perfekten Lehrstück für narrative, strukturelle und kulturelle Ambiguität.
5.1. Die Verwirrung beginnt: Wer entscheidet?
Degenhardt startet ambitioniert – mit frischem Blick, strukturierten Routinen, neuen Reportingwegen. Doch bereits in der dritten Woche äußert eine Führungskraft, sie habe „kurz mit Herrn Albrecht Rücksprache gehalten“ zum geplanten Umbau der Lagerlogistik. In der vierten Woche folgen weitere Fälle. Ein Teamleiter bittet um „ein kurzes Alignment mit dem Alten“ – aus Respekt. Der Produktionsleiter fordert „Rückversicherung“, dass der neue Kurs „von beiden getragen“ wird.
Degenhardt reagiert zunächst offen – schließlich wolle er Vertrauen aufbauen. Doch die Rückfragen häufen sich. Entscheidungen dauern länger. Mitarbeitende beginnen, Fragen doppelt zu stellen. Man will „nichts falsch machen“.
Die Organisation steht zwischen zwei Referenzen.
Der eine hat die Verantwortung, der andere hat die Geschichte. Und niemand benennt die Spannung.
5.2. Der Altinhaber schweigt – und wirkt
Hans Albrecht ist kein Querulant. Im Gegenteil. Er äußert sich selten, mischt sich nicht ein, bleibt „im Hintergrund“. Und doch: seine Präsenz ist wirksam. Er wird begrüßt, um Rat gefragt, erhält Zwischenstände, die an den neuen Geschäftsführer nicht weitergeleitet werden.
In einem internen Meeting sagt ein Abteilungsleiter wörtlich:
„Ich weiß, Herr Degenhardt ist jetzt verantwortlich. Aber ich wollte sicher sein, dass Herr Albrecht das auch gut findet – er hat das alles ja aufgebaut.“
Albrecht selbst ist überfordert. Er fühlt sich „gebraucht“, will nicht enttäuschen, will helfen. Aber er weiß auch: Sein Einfluss verhindert, dass sein Nachfolger wirksam wird. In einem späteren Beiratstermin äußert er:
„Ich bin noch zu nah dran. Die Leute schauen immer noch zu mir.“
5.3. Der Nachfolger verliert Legitimität
Degenhardt merkt, dass sein formales Mandat verpufft. Er ist offiziell Geschäftsführer – aber nicht kulturell verankert. Sein Führungsstil, geprägt von Ergebnisorientierung, transparenter Kommunikation und Meetingstruktur, trifft auf eine Belegschaft, die in „Familiennähe“ denkt: kurze Wege, informelle Entscheidungen, persönliche Rückversicherung.
Er beginnt, sich zu rechtfertigen. Jede Entscheidung muss nicht nur wirtschaftlich, sondern auch historisch legitimiert werden. Das erschöpft – und demoralisiert. In einer vertraulichen Gesprächsrunde sagt er:
„Ich habe das Mandat, aber nicht die Stimme.“
Er beginnt, sich zurückzuziehen – delegiert Entscheidungen, hält sich aus Diskussionen raus, passt sich an. Die Organisation reagiert mit Misstrauen: „Er ist nicht greifbar“, „wir wissen nicht, woran wir sind“.
5.4. Die Eskalation
Nach einem halben Jahr platzt der Knoten. Eine Investitionsentscheidung (neue Maschinen im Wert von 600.000 €) wird zwar von Degenhardt vorbereitet und betriebswirtschaftlich plausibilisiert – aber im Beirat infrage gestellt. Zwei Mitglieder berichten, sie hätten mit Albrecht gesprochen, „und der ist eher skeptisch“. Obwohl Albrecht nicht interveniert hat, wirkt seine Skepsis als Signal. Die Entscheidung wird vertagt. Degenhardt fühlt sich entmachtet.
Am nächsten Tag legt er dem Beirat eine Pause seines Mandats nahe.
5.5. Die Lösung: Rückzug sichtbar machen
Der Fall wird aufgearbeitet – mit Unterstützung eines externen Mediators. In einem moderierten Prozess benennt Albrecht seine emotionale Bindung, aber auch seine Unfähigkeit, sich selbst zurückzunehmen. Der Beirat beschließt:
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Albrecht bekommt keinen Zugang mehr zum Gebäude, außer zu klar definierten Anlässen.
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Sein Büro wird aufgelöst.
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Die Kommunikation wird auf eine formale Linie beschränkt.
-
Der Beirat übernimmt explizit die Mentorenrolle für Degenhardt – mit klaren Mandaten.
Nach vier Monaten Rückzugszeit kehrt Degenhardt zurück. Der Effekt: spürbar. Die Organisation spricht nun über ihn, nicht an ihm vorbei. Der Altinhaber bleibt Gesellschafter – aber nicht mehr Referenzfigur.
5.6. Reflexion: Was wir daraus lernen können
Dieser Fall zeigt exemplarisch:
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Informelle Präsenz wiegt oft schwerer als formale Macht.
-
Organisationen orientieren sich an Vertrautheit – nicht an Jobtiteln.
-
Rückzug ist kein Zustand, sondern ein gestalteter Prozess.
-
Kommunikation, Raumnutzung, Symbolik und Entscheidungsklarheit müssen synchronisiert werden.
Die stille Ko-Regentschaft war nie offiziell – aber sie war wirksam. Und sie zerstörte beinahe das Vertrauen in die neue Führung. Erst durch sichtbare, klare Maßnahmen entstand wieder ein eindeutiges Machtzentrum – ohne den Altinhaber zu entwerten, aber mit Konsequenz.
6. Strategien zur Rückgewinnung organisationaler Klarheit
Wenn Organisationen zwischen zwei Führungssystemen gefangen sind – einem formalen und einem faktischen –, entsteht Unsicherheit, Lähmung und Misstrauen. Die gute Nachricht: Solche Spannungsfelder lassen sich bearbeiten. Aber es braucht mehr als eine Unterschrift unter dem Geschäftsführerwechsel. Es braucht einen bewussten, strukturierten, kommunikativen Prozess, um Klarheit zu erzeugen – und zu halten.
Die folgenden sieben Strategien haben sich in Theorie und Praxis bewährt.
6.1. Follow the Structure: Die formale Linie stärken
Organisationen folgen dort, wo Struktur erkennbar ist. Eine der wichtigsten Maßnahmen ist daher, die formale Führungsstruktur klar und unmissverständlich sichtbar zu machen:
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Kommunikationswege eindeutig festlegen
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Entscheidungsbefugnisse sichtbar dokumentieren
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Meetingformate entflechten (Altinhaber nicht mehr in Führungskreise)
-
Reportinglinien auf die neue Führung hin optimieren
💡 Praxistipp: Organigramm-Workshops mit Belegschaft durchführen, bei denen nicht nur Kästchen, sondern reale Entscheidungs- und Informationsflüsse diskutiert werden.
6.2. Informelle Rückkanäle schließen
Einer der größten Unsicherheitsfaktoren in der Übergabephase sind nicht-offizielle Kommunikationslinien. Sie entstehen nicht absichtlich, sondern durch Gewohnheit, Unsicherheit oder emotionale Nähe.
Strategien zur Schließung:
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Altinhaber muss informelle Gespräche zu operativen Themen aktiv ablehnen
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Beiräte/Gesellschafter müssen Rückfragen zu Tagesgeschäft vermeiden
-
Einmal identifizierte Rückkanäle (z. B. Produktionsleiter → Altinhaber) offen thematisieren
🛑 Entscheidend ist nicht Kontrolle, sondern Haltung: Nur wer sich selbst diszipliniert, stärkt die Nachfolge.
6.3. Raum für Rückzug: Präsenz bewusst gestalten
Führung wird auch räumlich wahrgenommen. Wer im Haus präsent ist, im Büro sichtbar bleibt, wird als Teil des Systems erlebt – auch wenn der Titel nicht mehr passt.
Möglichkeiten:
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Büro des Altinhabers nach klarer Frist räumen
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Externe Offsite-Termine zur Übergabe symbolisch inszenieren
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Neue Führung sichtbar positionieren (z. B. Neugestaltung der Etage)
📐 Symbolische Klarheit erzeugt psychologische Sicherheit. Wo Alt und Neu räumlich nicht getrennt werden, bleibt das System in der Schwebe.
6.4. Kommunikation als Führungsinstrument etablieren
Kommunikation ist mehr als Information. In der Nachfolgephase wird Sprache zum Entscheidungsmedium, zur Klärungsplattform, zum Identitätsanker.
Konkrete Tools:
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„Führungsklartext“-Formate: regelmäßig 1:1-Updates mit Schlüsselpersonen
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Walk-and-Talk-Runden, bei denen die neue Führung persönliche Gespräche initiiert
-
Offene Q&A-Runden mit Belegschaft (transparente Entscheidungen erklären)
💬 Wichtig: Die neue Führung sollte nicht versuchen, „wie der Alte“ zu kommunizieren. Sie muss authentisch, klar und sichtbarihren eigenen Stil entwickeln.
6.5. Rituale und Übergangssymbole nutzen
Organisationen brauchen Übergangsmarkierungen – ähnlich wie in Familienritualen. Ohne solche Symbole bleibt der Übergang unvollständig.
Beispiele:
-
Übergabe-Rede mit klarer Rollenformulierung
-
„Letzter Tag“-Mailing des Altinhabers
-
Neue Mail-Fußzeile mit aktualisierten Strukturen
-
Willkommenssymbol für den Nachfolger (z. B. Führungsposting auf Intranet)
🔁 Erfolg braucht Erzählung. Nur wer den Übergang symbolisch rahmt, kann ihn auch kollektiv integrieren.
6.6. Interne Vertrauensräume schaffen
Ein häufiger Fehler: Die Organisation wird durch die Führung verwirrt, ohne dass sie offene Räume zur Reflexion bekommt.
Erprobte Formate:
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Vertrauensgruppen mit moderierten Feedbackrunden
-
Interne Dialog-Formate: „Was braucht ihr von der neuen Führung?“
-
Rückmeldeformate über Stimmungsbilder (z. B. Pulsbefragungen)
🧠 Organisationen sind klüger als ihre Einzelteile. Wer sie fragt, erhält Antworten – oft früher als gedacht.
6.7. Der Beirat als Ordnungsstifter
In Familienunternehmen ist der Beirat oft neutraler Vermittler – er muss in Übergangsphasen aktiver agieren:
-
Coachingfunktion für Nachfolger: Sicherheit geben, aber nicht kontrollieren
-
Schutzfunktion gegenüber Rückgriffen: Altinhaber respektvoll zur Seite nehmen
-
Moderationsrolle bei Unklarheiten (z. B. Doppelentscheidungen verhindern)
🧭 Der Beirat ist kein Zuschauer. In Übergangsphasen wird er zum architektonischen Rückgrat der Organisation.
Infobox – Frühwarnzeichen für unklare Nachfolgestrukturen
|
Frühwarnsignal |
Interpretation |
|---|---|
|
Entscheidungen dauern ungewöhnlich lange |
Organisation sucht nach klarer Autorität |
|
Mitarbeitende bitten „zur Sicherheit“ um Rat |
Loyalität ist nicht umgestellt |
|
Zwei Namen in CC oder BCC |
Struktur wird doppelt abgesichert |
|
Altinhaber „ist nur kurz im Haus“ |
Präsenz wirkt stärker als Absicht |
|
Rückfragen an Beirat zu operativen Themen |
Nachfolge wird nicht vollständig akzeptiert |
7.Fazit – Zwischen Raum, Rolle und Richtung
Die Phase zwischen Alt und Neu ist kein Übergang im Sinne eines automatischen Wechsels – sie ist eine eigenständige, fragile Phase mit eigenen Dynamiken, Risiken und Potenzialen. Die Organisation zwischen den Stühlen ist nicht nur ein Bild, sondern ein struktureller Zustand – geprägt von Ambivalenz, von Unsicherheit, von kollektiver Irritation.
7.1. Der Zwischenraum ist real – und gestaltbar
Was häufig als „weicher“ Übergang beschrieben wird, ist in Wirklichkeit ein systemischer Raum. In diesem Raum treffen zwei Führungslogiken, zwei Kulturen, zwei Narrative aufeinander – ohne dass die Organisation weiß, welchem sie folgen soll. Genau hier entstehen Symptome: Unentschlossenheit, Sprachlosigkeit, doppelte Kommunikationswege, informelle Rückkanäle, stagnierende Projekte.
Aber: Dieser Zwischenraum ist kein Naturgesetz. Er ist das Ergebnis nicht geklärter Rollen, nicht bewusst gestalteter Rückzüge und nicht klar verankerter Neuanfänge.
Organisationen verhalten sich nicht irrational – sie verhalten sich mehrdeutig dort, wo Mehrdeutigkeit herrscht.
7.2. Der Rückzug als Führungsleistung
Ein zentrales Ergebnis Deiner Forschung, Christian, ist die Erkenntnis, dass der Rückzug des Altinhabers nicht das Ende von Führung, sondern ein aktiver Führungsakt ist. Wer zurücktritt, ohne sich wirklich zurückzuziehen, lässt die Organisation im Unklaren. Wer dagegen klar kommuniziert, räumlich sichtbar wird und neue Legitimität ermöglicht, öffnet Räume für Vertrauen, Verantwortung und Wachstum.
Dieses Verständnis bricht mit dem traditionellen Bild des „lebenslangen Patriarchen“ und zeigt:
Rückzug ist kein Scheitern – er ist Teil der Führungsverantwortung.
7.3. Legitimität entsteht nicht durch Titel – sondern durch Klarheit
Formale Macht reicht nicht. Was zählt, ist legitime Autorität. Und diese entsteht durch drei Elemente:
-
Eindeutige Zuständigkeiten
-
Sichtbare Rücknahme des Vorgängers
-
Authentische, klare Kommunikation der neuen Führung
Deine Cases belegen dies eindrücklich: Dort, wo die Nachfolger klar auftraten, unterstützt durch ein eindeutiges Mandat und eingebettet in einen strukturierten Übergabeprozess, konnte sich die Organisation neu orientieren. Dort, wo diese Klarheit fehlte, dominierte Unsicherheit – selbst bei besten wirtschaftlichen Voraussetzungen.
7.4. Sprache als Medium der Macht
Ein durchziehendes Motiv aller Abschnitte: Sprache.
Sprache klärt oder verschleiert. Sie symbolisiert oder ignoriert. Sie erzeugt Legitimität – oder verhindert sie.
Die „Organisation zwischen den Stühlen“ ist immer auch eine sprachliche Konstellation. Das gilt für Altinhaber (die nicht loslassen), für Nachfolger (die nicht sprechen), aber auch für Beiräte, Führungskräfte, Mitarbeitende. Die neue Führung muss sich nicht nur durchsetzen – sie muss sprachfähig werden. Das heißt: Deutung übernehmen, Klartext sprechen, Unsicherheiten ansprechen, Narrative neu setzen.
7.5. Der Appell: Macht Klarheit zur Kultur
Zum Abschluss eine klare Botschaft an Familienunternehmen im Übergang:
-
Führungswechsel sind keine Einzelschritte – sie sind komplexe Übergangsräume.
-
Ohne explizite Rückzugsrituale des Altinhabers bleibt die Organisation gespalten.
-
Ohne Kommunikation entsteht ein Machtvakuum – das informell gefüllt wird.
-
Ohne Struktur bleibt die Organisation mehrdeutig – und verharrt im Stillstand.
Deshalb braucht es mehr als gute Absichten. Es braucht Führung im Übergang – mit Klarheit, Ritualen, Sprache, Haltung.